Wissenssysteme
Wissenssysteme bezeichnen ein Gefüge (z. T. hierarchisch) geordneter Einzelkenntnisse, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind und in der Textproduktion sowie in der rezeptiven Textverarbeitung aktiviert und verarbeitet werden.
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In der Textproduktion wird (im Langzeitgedächtnis gespeichertes) internes Wissen verarbeitet, durch externes Wissen ergänzt und mit diesem integriert. In der rezeptiven Textverarbeitung ermöglicht (Vor-)Wissen das Inferieren, reguliert und begrenzt die Inferenzbildung.
Umstritten ist, ob bei der Entstehung von Wissenssystemen Fremdorganisation (durch von außen kommende Informationen) dominiert oder Selbstorganisation (durch Aktivitäten der kognitiven Systeme (weitgehend) unabhängig von der Außenwelt - konstruktivistische Auffassung) oder ob beide Einflusskomplexe zusammenwirken (vgl. dazu Strohner 2000: 268).
Die Wissenssysteme, aus denen Einzelkenntnisse abgerufen und aktiviert werden, lassen sich in unterschiedlicher Weise beschreiben und ordnen, z. B. 1. Sprachwissen: Kenntnisse über sprachliche Strukturen (einschließlich des Textmusterwissens), 2. Weltwissen/Sachwissen: enzyklopädische Kenntnisse, 3. Handlungswissen: Kenntnisse über Voraussetzungen und Möglichkeiten (erfolgreichen) Handelns.
Vertreter modularer Auffassungen nehmen eine strikte Trennung der einzelnen Bereiche an (vgl. Viehweger 1989, Motsch 1989, Motsch & Viehweger 1991). Dieses Prinzip lässt sich nicht immer einhalten. So gehört z. B. das Lexikonwissen sowohl zum Sprachwissen als auch zum Weltwissen (und ist auch nicht völlig vom Handlungswissen zu isolieren). Lewandowski weist darauf hin, dass sich sprachliches (besonders semantisches) Wissen nur auf der Grundlage von Sachwissen, Allgemeinwissen oder Weltwissen entwickeln kann.
- Eine Trennung von semantischem und sachlichem Wissen erweist sich als schwierig; es scheint, dass sprachliches Wissen sich vor dem Hintergrund des allgemeinen Wissens konstituiert (Lewandowski 1990: 954).
Lewandowski bezeichnet das semantische Gedächtnis als (Langzeit)Speicher, der die für den Sprachgebrauch notwendige semantische und enzyklopädisch-konzeptuelle Information enthält (951).
- Das semantische Lernen ist nicht nur rein sprachliches Lernen. Die Aneignung von Bedeutungen und Begriffen ist eng verflochten mit der Aneignung der Wirklichkeit (bzw. der Strukturierung der Wirklichkeit) in sachlicher, sozialer und kognitiver Hinsicht (952).
Nach Schwarz ist das Lexikon Mittler zwischen Konzeptualisierung und grammatischer und phonologischer Enkodierung (Schwarz 1992: 178).
Die Kenntnisse über sprachliche Strukturen schließen neben dem Wissen über Kombinations- und Verknüpfungsmöglichkeiten sprachlicher Elemente auf den verschiedenen Ebenen auch die Kenntnisse über Kombinationsmöglichkeiten sprachlicher mit sprachbegleitenden (z. B. prosodischen) Mitteln ein (vgl. Heinemann & Viehweger 1991: 94).
Der Terminus Wissen entspricht im Zusammenhang mit der Sprachverarbeitung bzw. Textverarbeitung nicht in jeder Hinsicht der alltagssprachlichen Verwendung dieses Begriffs; die Elemente der Wissenssysteme und deren Relationen unterscheiden sich in ihrem Grad an Explizitheit, sie sind nicht in allen Bereichen in gleicher Weise bewusst, sondern z. T. implizit vorhanden bzw. internalisiert.
- Das Sprachwissen z. B., das im primären Spracherwerb nicht über Regeln bewusst erlernt, sondern in Interaktion mit anderen Personen erworben wird, ist implizites Wissen; in seiner schriftlichen Form dagegen wird es in der Regel gelernt und gelehrt (und später weitgehend internalisiert).
- Auch das Handlungswissen ist nicht voll bewusst, sondern wird spontan und unreflektiert (situationsangemessen) berücksichtigt; es ist jedoch - wie das Sprachwissen - der Reflexion zugänglich.
Das (dem Handlungswissen unterzuordnende) metakommunikative Wissen hat sich erst durch Reflexion herausgebildet (und ist nicht immer spontan verfügbar).
- Sachwissen (enzyklopädisches Wissen) ist grundsätzlich in höherem Grade als Sprach- und auch Handlungswissen bewusst.
Synonym
Siehe auch
Sprachwissen, Weltwissen, Handlungswissen, Wissen, Wissensverarbeitung, Lexikonwissen, Illokutionswissen, Textmusterwissen, Strategiemuster, Konzept, Schema, Rahmen, Skript, Textproduktion, rezeptive Textverarbeitung, inferieren
Link
Eva Schoenke, Textlinguistik-Glossar
Literatur
- Heinemann, Wolfgang & Dieter Viehweger. 1991. Textlinguistik. Eine Einführung (= Reihe Germanistische Linguistik 115). Tübingen: Niemeyer.
- Lewandowski, Theodor. 1990. Linguistisches Wörterbuch 1-3 (= UTB 1518). 5. Auflage. Heidelberg/Wiesbaden: Quelle & Meyer. (1. Auflage 1973).
- Motsch, Wolfgang. 1989. Dialog-Texte als modular organisierte Strukturen. In Sprache und Pragmatik 11 (= Lunder germanistische Forschungen). Rosengren, Inger (Hrsg.), 37-67. Stockholm: Almqvist & Wiksell.
- Motsch, Wolfgang & Viehweger, Dieter. 1991. Illokutionsstruktur als Komponente einer modularen Textanalyse. In: Brinker, Klaus (Hrsg.) Aspekte der Textlinguistik (= Germanistische Linguistik 106/107). Hildesheim/Zürich/New York: Olms.: 107-132.
- Schwarz, Monika. 1992. Einführung in die Kognitive Linguistik (= UTB 1636). Tübingen: Francke.
- Strohner, Hans. 2000. Kognitive Voraussetzungen: Wissenssysteme - Wissensstrukturen - Gedächtnis. In . Text- und Gesprächslinguistik / Linguistics of Text and Conversation. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung / An International Handbook of Contemporary Research 1. Halbbd. / Volume 1. Brinker, Klaus u. a. (Hrsg.), 261-274.
- Viehweger, Dieter. 1989. Coherence - Interaction of Modules. In Connexity and Coherence. Analysis of Text and Discourse (= Research in Text Theory 12). Heydrich, Wolfgang, Fritz Neubauer, János S. Petöfi, Emel Sözer (eds.), 256-274.